Von Siegfried von Xanten
Die Gebrüder Grimm, Jacob (1785–1863) und Wilhelm (1786–1859) waren Sprachwissenschaftler, Volkskundler und Märchensammler und gelten zusammen mit Karl Lachmann und Georg Friedrich Benecke als Gründungsväter der Germanistik.
Ihre „Kinder- und Hausmärchen“ sind neben der Luther-Bibel das „weitestverbreitete und meistübersetzte Buch deutscher Sprache.“ 200 Märchen, darunter Rotkäppchen, Frau Holle, Schneewittchen, Aschenputtel, der Froschkönig und Hänsel und Gretel. Ursprünglich gesammelt für Brentanos Volksliedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“.
Es war allerdings nicht die Adressierung an das jungmännliche Wunderhorn, die zum Verbot der Märchensammlung von 1945 bis 1949 in den westlichen Besatzungszonen führte, sondern folgende „Begründung: Sie verkörperten nationalistische Ideale und seien mitverantwortlich für den Nationalsozialismus.“
Märchenerzählung – Märchenkonsum – Märchen-Haft. Die Märchen standen auf den Literatur-Empfehlungslisten der Nationalsozialisten. Und empfahlen sich schon damit für ein Verbot. Die 68er griffen das Verdikt auf und definierten die Märchen kurzerhand als „Instrumente bürgerlicher Repression“.
Schriftliche Repressions-Instrumente. Ein aus „Verbrechen und Sadismus, Kannibalismus und Sodomie“ schöpfendes Repertoire, „grausamer, als ein Reporter des Satans sie ersinnen könnte: Da soll ein Junge zur Strafe für seine Naschhaftigkeit geschlachtet und gekocht werden. Ein Mädchen wird lebendigen Leibes von einem wilden Tier verschlungen, ein anderes von einem Schwein begattet. Eine Frau vergiftet ihr Stiefkind. Ein Mann beschläft jede Nacht eine Jungfrau und läßt sie bei Morgengrauen töten.“
Grausamer, als ein Reporter des Satans sie ersinnen könnte? Ist das so? Da drängen sich unwillkürlich Pizza-Geschichten auf. Und Roman Polanski hat mal so oder ähnlich gesagt: Die Wirklichkeit ist grausamer als alle meine Filme.
Das Verbot qualifizierte die Märchensammlung wiederum, Teil des Parthenons der Bücher auf der 14. „documenta“ in Kassel zu werden. Eine Akropolis aus Büchern, die einmal verboten waren. Darunter auch Antoine de Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“, Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“, Dan Browns „Sakrileg“, Jonathan Swifts „Gullivers Reisen“, Mark Twains „Die Abenteuer des Tom Sawyer“, J.D. Salingers „Der Fänger im Roggen“, Pablo Nerudas „Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung“ und John Steinbecks „Früchte des Zorns“. Eine illustre Gesellschaft.
Und mittendrin Hauptsturmführer Jäger aus dem Rotkäppchen und Obersturmbannführer Frosch-König. Und dazu der Nazi-Kasper, „der sich in heldischer Furchtlosigkeit gegen alles Undeutsche durchsetzt“. Im Kampf gegen Trolle, artfremde Elfen und Riesen, Helden und Verräter.
„Heil dem gestiefelten Kater!“ Und der Märchenkönig als Metapher für den Führer: „volksnah, gerecht, unantastbar.“ Der Filmproduzent und frühere Regisseur des Kasseler Residenztheaters Alf Zengerling verfilmte die Märchenstoffe. Aus der filmischen Adaption der Antithese von Gut und Böse erwuchsen neue Nebencharaktere, was nicht ohne Folgen für die zu verteilenden Attribute blieb.
Geldgierig ist in Rumpelstilzchen nun nicht mehr der König, sondern der Schatzkanzler. Und königliche Befehle erfolgen nicht ohne sozialen Ausgleich. So werden in Dornröschen alle Spindeln verbrannt. Zum Schutz der Prinzessin. Und das Volk wird für den Erwerbsausfall entschädigt.
Trotzdem erhielt Zengerling nur für einen von sechs Filmen das Prädikat „volksbildend“, einhergehend mit Steuererleichterungen. In „Der Hase und der Igel“ bekommt der langbeinige und hochnäsige Hase von dem kurzbeinigen, aber sympathischen Igel die Grenzen aufgezeigt. Was zeigt, dass „ein offenbar aussichtsloser Kampf mit Cleverness, Taktik und einer guten Idee doch gewonnen werden kann.“
Freilich bleiben hier und da auch offene Fragen. „Warum durfte die Frau des Fischers sich zwar wünschen, und zwar zunächst erfolgreich, ein Königreich zu bekommen, sogar den Papsttitel, nicht aber, Gott zu sein?“ Und: „War Frau Holle die Kämpferin für eine bessere Welt?“
Hubert Schonger war weitaus erfolgreicher als Alf Zengerling und erhielt gleich für neun seiner Märchenfilme das Prädikat „volksbildend“. Er beschränkte sich bei seinen Produktionen nicht allein auf die Gebrüder Grimm. Eine seiner Adaptionen war zum Beispiel „Der standhafte Zinnsoldat“ von Hans Christian Andersen.
Bei Schonger keine „tragikomische Liebesgeschichte zwischen einem Zinnsoldaten und einer Balletttänzerin“, sondern ein „Kriegsfilm mit animierten Puppen“. Ein Spielzeug-Troll will im Kinderzimmer eine Balletttänzerin erobern und greift einen Zinnsoldaten an, woraufhin 24 Kollegen den Troll mit einer Kanone so beschießen, dass der sich nicht mehr trollen kann, sondern in langen Kameraeinstellungen verbrennt.
„Dem Mutigen gehört die Welt“. Und wenn man keinen Herkules hat, tut es auch ein tapferes Schneiderlein. Im Kampf gegen Riesen, ein Wildschwein und ein Einhorn.
Ein Grund für das Märchen-Verbot der Alliierten mag Neid gewesen sein. Aufgrund des Fehlens eines eigenen analogen Kulturstranges. Und vielleicht auch die Tatsache, dass der gute Held schließlich immer den Endsieg erringt.
Das muss manchem tatsächlich zu denken geben, oder wie der Führer es formuliert:
„Früher habe ich viel darüber nachgedacht, und ich muß sagen, wenn man die alten Überlieferungen, die Märchen und die Sagen, die überall auftreten, näher besieht, so kommt man zu ganz sonderbaren Schlüssen.“ |
Außerdem gibt es weder in Amerika, noch in England, noch in Frankreich eine Fränkische Schweiz. Ein landschaftlicher Verständniskatalysator mit real-märchenhaftem Ambiente.
Und den Amerikanern geht auch noch jegliches Gefühl für Romantik ab, was man an ihren eigenen, mehr als ungelenk anmutenden, Märchenerzählungen erkennen kann. Als Beispiel mag hier das bekannte, völlig unromantische 911-Märchen gelten.
Oder wie es der Führer formuliert:
„Unser Volk hat nun einmal ein ausgeprägtes Gefühl für Romantik, das dem Amerikaner restlos abgeht, weil er nie über das Häusermeer seiner Wolkenkratzer hinausschaut. Unser Gefühl für Romantik entspringt dem starken Naturgefühl, das wir Deutsche haben. Wer Ludwig Richter, Carl Maria von Weber und die anderen Romantiker richtig verstehen will, der muß in die Fränkische Schweiz gehen. Dort erschließt sich ihm das Verständnis für echte Romantik in der Malerei und in der Musik. Natürlich gehört dazu auch ein Vorrat von Märchen und Sagen, an denen wir ja so reich sind.“ |
Immerhin war man auf Seiten der Briten, der Franzosen und der US-Amerikaner sehr bemüht, die Märchen-Narrative der Moderne möglichst exklusiv zu bedienen. Und der Postmoderne. Märchen der Macht.
„Es war einmal ein kleiner Junge. In der Schule wurde er gehänselt, auch wegen seiner geringen Körpergröße. Wenn er nach Hause kam, wartete niemand auf ihn. Er wohnte in der Vorstadt“. |
Und da er nicht gestorben ist, lebt er noch heute. Und wartet auf seinen Prozess. Nicolas Sarkozy.
Oder das Skripal- und das Duma-Märchen. Märchen, die nie eine vergleichbare, Jahrhunderte überdauernde Erzähltradition begründen werden wie Grimms Märchen. Märchen der Ohnmacht.
Und bei uns reicht man auch schon lange nicht mehr an die guten alten Märchenzeiten heran:
„In Deutschland wurden im vergangenen Jahr 9,6 Prozent weniger Straftaten registriert. Insgesamt verzeichnet die am Dienstag in Berlin vorgestellte Polizeiliche Kriminalstatistik 5,76 Millionen Delikte. Das ist der niedrigste Stand seit der Wiedervereinigung.“ |
Lautet eines der aktuellen deutschen Märchen. Und wir wissen ja, dass nicht alles wahr ist, was geschehen ist. Und nicht alles geschehen, was wahr ist. Mit anderen Worten: „Manche Ereignisse geschehen, sind aber nicht wahr. Andere sind wahr, finden aber nie statt.“
Oder wie der Analytiker und Tiefenpsychologe meint:
„Viele Geschichten handeln, ‚unrealistisch, aber nicht unwahr‘ von oralen und ödipalen Konflikten, von gewalttätigen und phallischen Phantasien, von Furcht vor Sexualität oder Kastration, von Erniedrigung durch andere oder Destruktion durch sich selbst, und immer wieder von der größten Angst der Menschen, der Trennungsangst, die aus der Frühzeit der Persönlichkeitsentwicklung herrührt, als Verlassensein noch Verhungern bedeutete.“ |
Das gemeine Märchen als verschriftlichter Ausdruck sublimer oder auch manifester Kastrationsängste und Phallusphantasien kurz vor dem Endsieg des Helden.
Und wenn man nur lange genug über Märchen fabuliert, gelangt man auch wieder zum Führer. Godwins Gesetz.
So wurde im russischen Fernsehen das Märchen verbreitet, die Ukraine plane, den Führer auf einer seiner Banknoten zu zeigen:
„Was ist schon ein Faschist ohne Hitler? Vielleicht nur ein schlapper Neonazi, ein halbherziger Rechtsradikaler, nicht der Rede wert. So haben wohl die Propagandisten des staatlichen russischen Fernsehsenders Rossija 1 gedacht, als sie diese bemerkenswerte Nachricht kreiert haben: Die ukrainische nationalistische Partei Swoboda habe einen neuen Geldschein im Wert von 1000 Griwna entworfen, mit Adolf Hitlers Konterfei. Diese Banknote verkörpere ‚die Werte der neuen ukrainischen Elite‘.“ |
Kein Märchen dagegen ist, dass die Grimms den letzten 1.000 DM Schein zierten.
Manche Märchen sind mit der heißen Nadel gestrickt. Unlängst wollte der Droemer Knaur Verlag „ein verschollen geglaubtes Dokument veröffentlichen, demzufolge die amerikanische Hochfinanz und Ölindustrie von 1929 bis 1933“ den Führer „mit 32 Millionen Dollar (umgerechnet 120 Millionen Reichsmark) finanziert“ habe.
Autor der amerikanische Bankier Sidney Warburg. Vorgeblich Sohn des größten US-Bankiers. Zuträger ein holländischer Arzt. Manche Personen sind da, existieren aber gar nicht. Andere existieren, sind aber nicht da. Sidney Warburg war da, existierte aber gar nicht.
Genauso wenig wie das Interview, das der Industriellen-Erbe Cornelius Vanderbilt jr. am 5. März 1933 mit dem Führer geführt haben will.
„Was haben Sie dem amerikanischen Volk zu sagen?“, fragt Vanderbilt einen als Hitler kostümierten Darsteller. Und der antwortet: ‚Sagen Sie den Amerikanern, dass das Leben weitergeht, immer weitergeht, unwiderruflich weitergeht.‘ Das sei ein grundlegendes Gesetz in der Geschichte der Menschheit. |
Sehr schön. Das erinnert an Oliver Kahns „Immer weiter, immer weiter!“ Ein Märchen.
Vanderbilt drehte 1933 den wohl ersten amerikanischen Propagandafilm gegen den Nationalsozialismus: „Hitler’s Reign of Terror“. Hitlers Schreckensherrschaft. Ein 55 Minuten langer Streifen, der seit 1939 unbeachtet im Archiv der Brüsseler Cinemathek lag. Eine Mischung aus Märchen, Dokumentaraufnahmen und nachgestellten Szenen.
Märchen und Märchenerzähler. Albert Speer war, so der Historiker Magnus Brechtken, ein großer Märchenerzähler. Der Führer „hielt seinen Chef-Architekten und Rüstungs-Manager Albert Speer für ‚das größte Genie aller Zeiten‘. Als 1945 für die Nazis das Ende aller Zeiten nahte, wollte das Genie seinen Bewunderer vergasen. Mitte Februar plante der Rüstungschef des Dritten Reiches, durch die Frischluftanlage Giftgas in den Führerbunker zu leiten, um Hitler und dessen engste Mitarbeiter zu töten.“
Das gab Albert Speer am 159. Verhandlungstag vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg zu Protokoll.“
Und was sagt der Führer? „Unwahrhaftigkeit kann ich nicht leiden!“ Und:
„Glaubt man, daß, auf die Ferne gesehen, mit Unwahrheit und Lüge ein Erfolg erzielt wird? Ich darf mich nicht an Zeiträume von 300 oder 500 Jahren halten, wenn ich an die Zukunft des Volkes denke!“ |
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