Recherche-Fundstück:
Apotheose des Staates
Im Jahre 1831 hatte das Königreich Preußen 13.151.883 Untertanen. Von diesen lebten etwa 5.430.000 (oder grob 41 Prozent) in den Provinzen Sachsen, Rheinland und Westfalen – Regionen, die erst 1815 preußisch geworden waren. Wenn man die Bewohner des Großherzogtums Posen hinzufügt, das erst 1815 an Preußen »zurückgegeben« worden war, dann steigt der Anteil der neuen Preußen auf fast 50 Prozent. Aus ihnen preußische Bürger zu machen, war keine leichte Aufgabe. […] Auch mit Blick auf die Verwaltung blieb das Königreich ein Flickenteppich. Es gab immer noch kein einheitliches gesetzliches Gerüst. Die Berliner Verwaltung versuchte in den zwanziger Jahren [des 19. Jahrhunderts], das System nach und nach zu homogenisieren, doch das rheinländische (also napoleonische) Recht blieb weiterhin in den westlichen Provinzen in Kraft, mit der Folge, dass Kandidaten für die dortige Richterschaft auch dort ausgebildet werden mussten. Während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts existierten neben dem Geheimen Obertribunal in Berlin vier weitere oberste Gerichtshöfe, darunter einer für das Rheinland, einer für Posen und einer in Greifswald für den ehemals schwedischen Teil Pommerns, denn dieser behielt den eigenen traditionellen Gesetzeskodex, eigene Institutionen kommunaler und städtischer Selbstverwaltung und eigene städtische Verfassungen. Auch das Rheinland hatte es sich ausbedungen, das vergleichsweise liberale System der Verwaltung, das von den Franzosen eingeführt worden war, zu behalten. Durch die Anwendung des Allgemeinen Landrechts in den meisten anderen Provinzen wurde die große Vielzahl der lokalen Gesetze und Bestimmungen überdeckt. […] Preußen war im Jahr 1840 in Bezug auf Gerichtsbarkeit und Verwaltung nicht mehr so homogen wie noch im Jahr 1813. Das kann nicht genug betont werden, weil Preußen immer wieder als das Musterbeispiel eines zentralisierten Staates angesehen wird. Dabei war es ja gerade das Ziel der kommunalen Reformen […] gewesen, Befugnisse an ein allgemein bewundertes System der städtischen Selbstverwaltung zu delegieren. Selbst das konservativere revidierte Stadtrecht, das 1831 in Westfalen eingeführt wurde, verschaffte den Städten eine größere Autonomie als unter dem napoleonischen System. In der gesamten Nachkriegsära nahmen die Organe des Zentralstaates eine ehrerbietige Haltung gegenüber den Granden der preußischen Provinzen ein. Und die Provinzeliten bewahrten sich ein starkes Bewusstsein ihrer eigenen Identität, insbesondere an der östlichen und westlichen Peripherie, was noch dadurch verstärkt wurde, dass zwar jede Provinz einen eigenen Landtag hatte, das Königreich jedoch keinen. […] Der dezentrale, pragmatische Regierungsansatz ging einher mit der impliziten Akzeptanz einer kulturellen Vielfalt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Preußen ein sprachlicher und kultureller Flickenteppich. Die Polen in Westpreußen, Posen und Schlesien stellten die größte sprachliche Minderheit; in den südlichen Kreisen Ostpreußens sprachen die Masuren ländliche Dialekte des Polnischen, die Kaschuben im Hinterland von Danzig sprachen wieder einen eigenen Dialekt. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in vielen Schulen des ehemaligen Herzogtums Kleve Niederländisch unterrichtet. In den wallonischen Kreisen Eupen-Malmedys – eines schmalen Gebiets, das 1815 zu Preußen geschlagen wurde – blieb Französisch bis 1876 die Sprache der Schulen, Höfe und Verwaltung. Die »Philipponen«-Gemeinden der Altgläubigen, die sich 1828-1832 als Flüchtlinge aus Russland in Masuren niederließen, sprachen Russisch. […] In Oberschlesien gab es tschechische Gemeinden, Sorben im Kreis Cottbus, und vereinzelt lebten Sprecher des alten slawischen Dialekts der Wenden in Dörfern im Spreewald. Mehr schlecht als recht schlugen sich die Kuren auf der langen Landzunge an der Ostsee, der Kurischen Nehrung, durch […]. Die preußische Politik hatte diese östlichen Siedlungen immer als »Kolonien« mit eigener Kultur betrachtet, die preußische Verwaltung unterstützte die einheimischen Mundarten, indem sie deren Gebrauch unter anderem in Grundschulen förderte, protestantische Netzwerke verbreiteten Gesangbücher, Bibeln und Traktate in einer breiten Palette einheimischer Sprachen und boten in Gegenden mit einer sprachlichen Minderheit zweisprachige Gottesdienste an. […] Erst im Jahr 1876 wurde Deutsch als Amtssprache für alle Teile Preußens festgelegt. Preußen blieb also, mit den Worten eines schottischen Reisenden, der in den vierziger Jahren durch die Provinzen der Hohenzollern fuhr, ein »Königreich der Fetzen und Flicken«. Wie Samuel Laing beobachtete, hatte Preußen »im landläufigen Sinn, nur eine geografische oder politische Bedeutung, indem es die preußische Regierung oder die Provinzen, die sie regiert, bezeichnet – keine moralische oder soziale Bedeutung. Die preußische Nation ist eine Kombination selten gehörter Worte, nie umgesetzter Ideen […]«. Laings Kommentar war, so ablehnend er war, doch tiefblickend. Was hieß es denn genau, »Preuße« zu sein? Das Preußen der Restaurationszeit war keine »Nation« im Sinne eines Volkes, das über eine gemeinsame Herkunft definiert und zusammengehalten wird. Es hat nie eine preußische Küche gegeben. Es gab auch keine spezifisch preußische Folklore, Sprache, Musik oder Kleidung (abgesehen von den Uniformen des Militärs). Preußen war keine Nation im Sinne einer Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Geschichte. Vielmehr musste sich das »Preußentum« auf einer Basis selbst definieren, die nicht bereits von der rivalisierenden Ideologie des deutschen Nationalismus besetzt war. Das Ergebnis war ein seltsam abstraktes und fragmentarisches Identitätsgefühl. Für die einen stand Preußen für Recht und Ordnung; deshalb verwiesen die altlutherischen Separatisten in Schlesien auch so zuversichtlich auf das Allgemeine Landrecht, als sie sich gegen willkürliche Aktionen der staatlichen Behörden zur Wehr setzten. Für diese demütigen Untertanen der preußischen Krone war der Kodex eine Garantie der Freiheit des Gewissens, eine »Verfassung«, die das Recht des Staates einschränkte, sich in das Leben der Untertanen einzumischen. Das Recht, das bestimmte individuelle Freiheiten garantierte, stellte auch eine öffentliche Ordnung in Aussicht – ebenfalls ein viel gepriesenes Merkmal der preußischen Herrschaft. […] »Preußentum« implizierte […] den Eifer für eine bestimmte Ordnung. Die »Sekundärtugenden« der preußenfreundlichen Klischeevorstellung (Pünktlichkeit, Loyalität, Ehrlichkeit, Gründlichkeit, Präzision) waren allesamt Attribute für ein höheres Ideal. Aber für welches Ideal eigentlich? […] Die einzige Institution, die alle Preußen miteinander gemein hatten, war der Staat. Es war kein Zufall, dass ausgerechnet in dieser Zeit die Diskussion um die Idee des Staates ungeahnte Kreise zog. Seine Erhabenheit wurde zwingender als je zuvor gepriesen, zumindest im Milieu der Akademiker und hohen Beamten. Kein Mensch trug nach 1815 stärker dazu bei, die Würde des preußischen Staates zu verbreiten als Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der schwäbische Philosoph, der 1818 Fichtes vakanten Lehrstuhl an der neuen Universität von Berlin besetzte. Der Staat, argumentierte Hegel, sei ein Organismus mit einem Willen, Rationalität und Ziel. Sein Schicksal sei es – wie das eines Lebewesens -, sich zu verändern, zu wachsen und fortschrittlich zu entwickeln. Der Grund des Staates sei die Macht der Vernunft, die sich als Wille verwirkliche, er sei eine transzendente Domäne, in der die entfremdeten rivalisierenden »Interessen der Einzelnen« zu einem kohärenten Ganzen und einer Identität verschmelzen. Hegels Überlegungen zum Staat hatten einen theologischen Kern. Der Staat hatte einen quasigöttlichen Zweck; er sei »der Gang Gottes in der Welt«. Unter Hegels Feder wurde er zu einem quasigöttlichen Apparat, durch den die Vielzahl der Untertanen, welche die Zivilgesellschaft bildeten, zur Universalität erlöst wurden. Mit diesem Ansatz brach Hegel mit der Anschauung, die seit Pufendorf und Wolff unter preußischen Staatstheoretikern vorherrschte, nämlich, dass der Staat nicht mehr als eine Maschine sei, so konzipiert, dass sie die äußeren und inneren Sicherheitsbedürfnisse der Gesellschaft befriedigte, die sie gestaltet hatte. Hegel wies die Metapher von der Staatsmaschine, die von Theoretikern der Spätaufklärung favorisiert wurde, mit der Begründung zurück, sie würde »freie Menschen« behandeln als wären sie lediglich Rädchen im Getriebe. Der hegelianische Staat war kein oktroyiertes Konstrukt, sondern der höchste Ausdruck der sittlichen Substanz eines Volkes, die Entfaltung einer transzendenten und rationalen Ordnung, die »Verwirklichung der Freiheit«. Daraus folgte, dass die Beziehung zwischen Zivilgesellschaft und Staat nicht antagonistisch sondern wechselseitig war. Gerade der Staat ermöglichte es ja der Zivilgesellschaft, sich auf rationale Weise zu ordnen, und die Vitalität des Staates hing wiederum von den jeweiligen Partikularinteressen ab, welche die Zivilgesellschaft ausmachten, indem der Einzelne »in seiner besonderen Art für das Ganze tätig ist«. »Diese besondere Sphäre lässt sich zu einer Totalität erheben, wenn das Geschäft aufrichtig und wahrhaft betrieben wird […]. Aus dieser Vollführung des einzelnen geht das Ganze hervor.« Hegel hatte keine liberale Vision vom Staat – er war kein Fürsprecher nationaler zentralistischer Legislativen, nachdem er miterlebt hatte, wozu diese unter den Jakobinern in Frankreich imstande gewesen waren. Doch die fortschrittliche Orientierung seiner Vision war nicht zu übersehen. Denn bei allen Bedenken wegen des jakobinischen Experiments feierte Hegel die Französische Revolution doch als »herrlichen Sonnenaufgang«, der von »allen denkenden Wesen« mitgefeiert worden sei. Hegels Studenten in Berlin bekamen zu hören, dass die Revolution eine unumkehrbare Errungenschaft des »Weltgeistes« darstelle, deren Folgen immer noch zu spüren seien. Der Umstand, dass er die Vernunft in den Mittelpunkt stellte und eine Vorwärtsentwicklung erkannte, war bei seinen Überlegungen zum Staat an jedem einzelnen Punkt zu spüren. Im Hegel’schen Gemeinwesen war kein Platz für privilegierte Kasten und private Rechtsprechung. Und indem Hegel den Staat über die Ebene des Parteienstreits erhob, rückte er die erfrischende Möglichkeit ins Licht, dass Fortschritt – im Sinne einer nützlichen Rationalisierung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung – einfach eine Eigenschaft des Gangs der Geschichte sei, wie er im preußischen Staat verkörpert werde. Aus heutiger Sicht fällt es schwer, die berauschende Wirkung der Gedanken Hegels auf eine Generation gebildeter Preußen nachzuvollziehen. Es war keine Frage des pädagogischen Charismas Hegels […]. Die Ideen selbst und die besondere Sprache, die Hegel erfand, um sie auszudrücken, setzten sich in den Köpfen seiner Schüler im ganzen Königreich fest. […] Die Schriften der Philosophen lieferten eine wunderbare Legitimierung der preußischen Bürokratie, deren Machtausdehnung innerhalb der Exekutive während der Reformära eine Rechtfertigung erforderte. Hegel bewegte sich auf einem Grat zwischen doktrinärem Liberalismus und restauratischem Konservativismus – in einer Ära der tiefen politischen Verunsicherung fand dieser Mittelweg viele Anhänger. In seinen Schriften wurden entgegengesetzte Standpunkte gegeneinander abgewogen, häufig mit verblüffender Virtuosität. Seine dialektische Zauberlehre, im Verein mit einer orakelhaften und gelegentlich verwirrenden Darbietung, ließ Raum für unterschiedliche Interpretationen. So war es möglich, dass sich die hegelianische Sprache und Hegels Ideen sowohl in den politischen Ideologien der Rechten als auch der Linken niederschlugen. Und schließlich schien Hegel einen Weg anzubieten, unbestreitbare politische und soziale Konflikte mit Blick auf eine ultimative Harmonie der Interessen und Ziele miteinander zu versöhnen. »Hegelianismus« war nicht der Stoff, aus dem populäre Identitäten gestrickt werden. Das Werk des Meisters war bekanntlich schwer zu lesen, geschweige denn zu verstehen. Richard Wagner und Otto von Bismarck zählten zu den Zeitgenossen, die sich vergeblich bemühten, den Sinn zu erfassen. Darüber hinaus war sein Appell konfessionell eingefärbt. Hegel stammte aus einem pietistischen Milieu, dessen Prägung an seinen Versuchen abzulesen ist, die irdische an die göttliche Ordnung anzugleichen. […] Seine Thesen strömten rasch in die politische Kultur ein […]. Der Hegelianismus wurde allgegenwärtig, drang in die Sprache und das Denken selbst jener ein, die das Werk des Meisters weder gelesen noch verstanden hatten. Hegels Einfluss trug dazu bei, den modernen Staat in den Mittelpunkt des Denkens zu rücken. Niemand anderer als Hegel personifiziert besser die Ausweitung des Diskurses um das Konzept des Staates in den Jahren der Neuausrichtung nach der Französischen Revolution. Der Staat war nicht länger nur der Sitz der Souveränität und Macht, er war die treibende Kraft, die den Gang der Geschichte bestimmte, gar die Verkörperung der Geschichte selbst. |
Auszug (Seite 490 bis 498) aus dem Buch:
Magnus: »Wer etwas über deutsche Geschichte lernen will, für den ist dieses Buch ein Muss.«
Georg Friedrich Wilhelm Hegel. “Dialektik“, die Hegel’sche:
These » Anti-These » Synthese, die Zusammenführung von augenscheinlich Ungleichem, Widersprüchlichem, zur Förderung eines Erkenntnisprozesses, welcher gleichsam wieder in einer These und entsprechender Anti-These mündet und somit den Erkenntnisprozess weiter vorantreibt.
Alles läuft nach Plan …
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+++ Band 1 +++ Band 2 +++ Band 3 +++ Band 4 +++ Band 5 +++