Von Bjørn Lystaal
Wir schreiben das Jahr 2019, und »Die Welt ist im Wandel.«
Mehr und mehr bekommen bislang politikferne Menschen das Gefühl, es sei an der Zeit, sich nun doch mal einzumischen. Millionen demonstrieren, in Dutzenden von Städten, seit Monaten. Und die Reaktion der Mächtigen?
Keine. Oder Gewalt, wie in Frankreich.
Stellen wir uns doch einmal der Frage, warum die Macht – jede Macht – sich, auf Deutsch gesagt, einen Dreck für das interessiert, was wir meinen. Irgendwann wandten die Diener von Staat und Volk sich von diesem Volk ab – und als sie uns wieder ansahen, trugen sie die Masken der Herren.
Wann hat das begonnen? Nun, nicht erst, als wir sie zu Königen oder Kaisern ernannten oder sie wählten, seien Sie unbesorgt. Es fing viel früher an, ganz banal und beiläufig. Es begann mit einer Entscheidung.
Um das zu erklären, muss ich, vergeben Sie mir, mit etwas recht Persönlichem beginnen:
Meine Hündin hatte neulich einen spastischen Anfall. Sie lag eingerollt da und schlief, bis sie plötzlich einen grotesken Satz in die Luft machte, wie ein Stein zu Boden fiel und verzweifelt scharrend versuchte, die Kontrolle über ihren verkrampft zuckenden Körper zurückzugewinnen.
Ihre sonst so strahlenden Knopfaugen waren regelrecht matt, und die Zunge rollte sich im Rachen ein, so dass wir hineingreifen und sie fixieren mussten – mit einem Trommelstock, denn wir wissen aus sehr schmerzlicher Erfahrung, dass als Nächstes immer der Schnappreflex kommt.
Bei alledem verliert sie auch die Kontrolle über ihren Körper, speichelt sehr stark und nässt sich zugleich ein. Wir halten sie dann fest, so behutsam es geht, damit sie sich nicht verletzt, und irgendwann kommt sie wieder zu Bewusstsein.
Diese Anfälle treten unregelmäßig und in längeren Zeitabständen auf, seitdem wir sie haben. Ansonsten ist sie kerngesund.
Nach intensiven Recherchen sind wir überzeugt, dass bestimmte Inhaltsstoffe aus Standard-Impfungen der Grund für die Anfälle sind – und dass sie dabei noch gut weggekommen ist. Also steuern wir gegen und leiten die Gifte aus, was das Zeug hält, mit Natron, DMSO und solchen Dingen. Die Anfälle werden seitdem seltener und auch leichter.
Eins erscheint mir sicher: kein Hund dieser Welt würde sich jemals impfen lassen, wenn man ihn vor die Wahl stellte – aber das tut man ›natürlich‹ nicht. Wer würde schon einen Hund nach seiner Meinung fragen?
Nun also, warum erzähle ich das alles?
In freier Natur machen Tiere höchst selten Fehler bei dem, was sie zu sich nehmen. Sie wissen instinktiv, was sie brauchen können und was nicht; und viele nutzen sogar natürliche Heilmittel.
In Gefangenschaft, bzw. als Haustier (domestiziert, also: ans Haus gewöhnt, ein beschönigender Begriff für unfrei) ist das ganz anders – hier greifen die Instinkte nicht mehr. Obwohl für einen Hund z.B. Schokolade giftig ist, wird er sie normalerweise nehmen.
Die Sache hat klare Vorteile für den Hund; so braucht er sein Futter nicht mehr selbst zu erjagen; es ist nicht länger nötig, eine Höhle zu finden, um den Nachwuchs aufziehen zu können usw.
Das bequeme Leben hat aber auch seine Kehrseiten: im Tausch für diese „Gefälligkeiten“ erwartet der Mensch ein bestimmtes Verhalten des Hundes, das sich am ehesten in dem Begriff Gehorsam zusammenfassen lässt.
Sie ahnen es sicher schon: Gehorsam stammt von gehören. Ich gehöre also, wem ich Gehorsam und den gehörigen Respekt schulde.
Diese Unterordnung unter den Menschen verlangt vom Hund sehr oft die Verleugnung seiner Instinkte. Er hat sie geerbt, um in freier Wildbahn sein Überleben und das des Rudels zu sichern – man könnte sie auch „altes Wissen“ nennen, Erfahrung durch Generationen von Ahnen.
Es gibt unter den Hunderassen einige, die diesen Ahnen mental noch sehr nahe stehen. Das sind vornehmlich sehr alte Linien, die durch ihre Verwendung und die Zuchtbestrebungen der Menschen nicht übermäßig in ihrer Natürlichkeit eingeschränkt wurden, beispielsweise die Tibet-Dogge (Do-Khyi) oder der Akita-Inu, ein Allzweckhund aus dem nördlichen Japan, und natürlich die Herdenschutzhunde aus Mittel- und Kleinasien wie etwa der türkische Kangal. Alles ziemlich große Vertreter ihrer Art, aber es gibt auch Winzlinge unter ihnen wie den Lhasa-Apso. Dieses etwa katzengroße Geschöpf diente seit Jahrhunderten, wahrscheinlich -tausenden, (mit) den Mönchen in Lhasa als Tempelwächter – woraus wir lernen, dass Effizienz nichts mit Größe zu tun haben muss.
Allen diesen Rassen ist eines gemeinsam: sie werden in der einschlägigen Fachwelt unter dem Attribut „Nicht für Anfänger!“ gehandelt.
Diese besonderen Hunde neigen dazu, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, mithin ihren Instinkten zu folgen, die noch nicht durch menschliche Einflussnahme verschüttet sind. Einem solchen Hund bietet man auch erfolglos Schokolade an – die Ahn(ung)en sagen ihm, dass sie ihm nicht gut tun wird.
Diese Tiere betrachten sich nicht als Eigentum von irgendwem, sondern empfinden den Menschen im besten Sinne als gleichgestellt. Einen Kadavergehorsam wird man vergeblich suchen, und selbst schlichte Gefolgschaft braucht ihre Zeit (beim Akita z.B. zwei Jahre!).
Dafür ist aber das, was so ein Hund in die Beziehung investiert – falls sie zustande kommt – kein bloßer Opportunismus, sondern aufrichtige und echte Freundschaft anstelle eines bestochenen Gehilfen.
Dass die meisten Menschen den Umgang mit solchen Vertretern der alten Schule als schwierig und »Nicht für Anfänger!« empfinden, liegt nicht an den Hunden, sondern an der Erwartungshaltung, die der unwissende Mensch diesem Zusammenleben entgegenbringt.
Unter den Zweibeinern selbst läuft es nicht viel anders ab. Wenn wir mal jemandem begegnen, der nicht so angepasst ist, der seinem eigenen Wissen, seinem Instinkt folgt, dann empfinden wir ihn schnell als „seltsam“, „eigensinnig“, „schwierig“, „verschlossen“ oder noch Schlimmeres.
Falls es aber gelingt, zu solch einem Menschen eine persönliche Beziehung aufzubauen, dann kann das, wie bei den Hunden, etwas ganz Besonderes und sehr Wertvolles sein.
Eben diese »fürchterliche« Instinktsicherheit ist es, die uns selbst, durch unseren Prozess der dauernden Domestikation, verloren gegangen ist. Wir waren, um bei dem Bild der Hunde zu bleiben, einmal Wölfe, die sehr gut auf sich aufpassen und für ihr Rudel sorgen konnten.
Der sogenannte moderne Mensch ist, relativ dazu, inzwischen ein Hund; vielleicht ein wurstdicker Basset mit traurigen Augen, nicht mehr Jäger, sondern Aasfresser, nicht mehr instinktsicher, sondern ferngesteuert, nicht mehr verantwortlich, sondern schuldig, nicht mehr am liebsten frei, sondern am liebsten krank.
Dieser Hund gehört jetzt zur Meute statt zum Rudel. Obwohl beide Begriffe eine Ansammlung von Vierbeinern bezeichnen, die gelegentlich zur gemeinsamen Jagd aufbrechen, könnten die Unterschiede zwischen den beiden Verbänden kaum größer sein.
- Rudel jagen zum Lebenserhalt; Meuten hetzen auf Befehl oder zum Vergnügen.
- Rudelmitglieder stehen immer füreinander ein; Meutehunde verteidigen nur sich selbst.
- Das Rudel überträgt jedem Tier seine Verantwortung. Die Meute weist höchstens Schuld zu. Antworten kommen nur vom Zweibeiner.
- Wer gegen die Überlebensinteressen des Rudels handelt, wird verjagt oder stirbt, das gilt selbst für das Leittier. Wer dagegen in der Meute für Stunk sorgt und sich als Psychopath zu erkennen gibt, hat beste Chancen, selbst Leithund zu werden.
Und so, wie jeder Hund eine tiefsitzende Furcht vor Wölfen empfindet – der einzige Grund, weshalb die sprichwörtlich friedfertigen irischen Wolfshunde sich bereit finden, Wölfe zu verfolgen und sogar zu stellen – , so finden wir modernen Menschen die Wenigen fürchterlich, denen die Unabhängigkeit noch nicht ganz abtrainiert oder abgezüchtet wurde.
Einen Wolf erkennt man immer. Er ist … anders. Da ist etwas im Blick, in der stolzen, aufrechten Haltung, in den geraden Schultern, das uns im Innersten berührt. Schauen Sie einmal einem Wolf in die Augen, Sie werden die Entsprechung deutlich erkennen.
Viele fühlen sich von der Präsenz des Wolfes eingeschüchtert, die Ruhe und innere Kraft, die er ausstrahlt, sind ihnen unheimlich. Wo jeder Hund sich getrennt und allein fühlen muss, ist der Wolf für immer verbunden – mit den Seinen, mit den Ursprüngen, mit dem Leben.
Alle die brav einstudierten Regeln unseres Hundelebens zerfallen in Bedeutungslosigkeit, wenn sie sich in den goldenen Augen eines Wolfes spiegeln – unsere Welt zerbricht an einem Blick.
Dieser Blick ist es, der die Vielen wieder klein, hilflos und ängstlich macht. Prompt schaltet sich ihr verbliebenes Ahnenwissen zu und meldet: unbekannte Lebensform. Abnormal. Bedrohung!
Ein Rotalarm, der sämtliche geistigen Ausgänge verriegelt bis auf drei:
Flucht
- Wechsel der Blickrichtung oder der Straßenseite, um eine Begegnung zu vermeiden,
- »Ich hab‘ leider gar keine Zeit!« wenn die Begegnung sich nicht vermeiden ließ, oder
- »Sag‘ ihm / ihr, ich bin nicht da!« am Telefon.
Kampf
- etwa nach dem Hollywood-Prinzip: »Sir, wir wissen nicht, was es ist – aber wir können es erschießen!«
- oder, auch sehr beliebt, aus der (vermeintlichen) Sicherheit: »… und ich wollte nur mal sagen, ich bin nicht der Einzige hier, der das so sieht, dass du irgendwie nicht dazugehörst.“
Starre
- auch Totstellen genannt. Die Standardvariante der Entscheidungsunfähigen. Bei den Vielen tritt sie gern auf in Form von unterwürfiger Dienstbeflissenheit (bei gleichzeitiger innerer Kündigung), die natürlich niemals den Wert freiwilliger Loyalität hat.
Allen drei Vorgehensweisen ist neben dem Auslöser noch eines gemeinsam: sie können nicht zu einer Konfliktlösung führen. Denn solange Angst im Spiel ist, gibt es keine Lösung.
Natürlich ist der nicht domestizierte Mensch eine Bedrohung. Aber: nicht für Sie oder mich. Für unseren Seelenfrieden allerdings, für verkrustete Geistesstrukturen, für das bequeme Paradogma vom quid pro quo und, vor allem, für die durchsichtigen Ausreden, warum man nichts ändert, da es einem doch so sehr missfällt.
Der Wolf, drücken wir es einmal so aus, lebt die innerste Wahrheit des Hundes. Seine Majestät erinnert die Hunde im Herzen daran, wie sie selbst ursprünglich waren – und eigentlich noch immer sein sollten.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um eine überaus wichtige begriffliche Unterscheidung zu treffen: in Wahrheit (was war!) sind wir alle Wölfe, denn von Wölfen stammen wir alle ab. Und in Wirklichkeit (was wirkt!) sind wir – beinahe – alle Hunde.
„Wirklichkeit, die: Summe aller verursachten und verursachenden Wirkungen, von uns selbst ständig neu erschaffen. Die W. entsteht durch jede einzelne Entscheidung, die wir treffen, ja sogar durch jede, die wir aufschieben.“ |
Die Mehrzahl von uns hat wirk-lich entschieden, ihre Wahrheit, ihre Freiheit, ihre Rolle und ihren Platz im Rudel, kurz: ihre Lebendigkeit einzutauschen gegen einen vollen Napf und ein warmes Körbchen. Sie haben den Wolf in sich verlassen und begonnen, als Hunde zu leben.
Und da sind wir schon wieder am Ausgangspunkt.
Wer würde schon einen Hund nach seiner Meinung fragen?
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